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     Eröffnungsrede
  von Barbara Reil, Museumsleiterin   Flüsterlings
  Welt – Kunst ist Geheimnis „Das
  erste real existierende Ufo ist gelandet.“ – bereits der Satz, den ich
  meiner Rede einleitend voranstellen möchte, stammt nicht von mir, sondern von
  Arturo Eskuchen, der damit seinen Text zu einer früheren Ausstellung in der
  Galerie Skulpturale beendete. Mir dient er an dieser Stelle zur Legitimation
  eines kurzen populärkulturellen Exkurses, der sich mir förmlich aufgedrängt
  hat, als ich vor einigen Tagen die – damals noch unvollendete – Ausstellung
  „Flüsterlings Welt“ zum ersten Mal gesehen habe. Ich
  fühlte mich spontan an den Film „Arrival“ erinnert, der vergangenes Jahr in
  den Kinos zu sehen war. Auch da wird von der Landung eines Raumschiffs
  erzählt, die dabei nicht zu den Hollywood-üblichen Gewaltexzessen führt,
  sondern zu einem spannenden Kulturtransfer: Als Geschenk an die Menschheit
  bringen die Aliens eine Sprache mit, die nicht in akustisch wahrnehmbaren
  Lautfolgen, sondern in rätselhaften Zeichen besteht – die sprachlichen
  Äußerungen verlaufen nicht linear, sie haben keinen erkennbaren Anfang und
  kein erkennbares Ende. Ein Erlernen dieser Sprache führt im Film zu einer
  fundamentalen Bewusstseinserweiterung – einem neuen Empfinden und Verständnis
  von Zeit. Was hat
  das nun alles mit der Ausstellung – oder genauer gesagt: mit „Flüsterlings
  Welt“ – zu tun?  Die Ausstellung verdankt ihren Titel
  einem Objekt von Wolfgang Überhorst, dem sich der Besucher gleich beim
  Betreten der Galerie unmittelbar gegenüber sieht: Der „Flüsterling“ ist ein
  rätselhaftes Wesen, von einem merkwürdigen roten Leuchten umgeben wie von
  einem sichtbaren Kraftfeld. Was wir hier wahrnehmen, ist der Widerschein der
  mit fluoreszierender Farbe bestrichenen Rückseite auf der Wand der Galerie,
  der den „Flüsterling“ so ungeheuer anziehend macht.
 Der
  „Flüsterling“ kommt von ziemlich weit her aus dem Kosmos und ist, das legt
  sein Name nahe, ein Geschöpf, das sich nur auf sehr leise Art mitteilt: Diese
  Kommunikation im Flüsterton ist Thema der Ausstellung, wobei es nicht um ein
  Flüstern im Sinne von stiller Post oder einem Ausgrenzen anderer geht, die
  nicht mithören dürfen, sondern um gesteigerte Intensität – ausgehend von der
  Überzeugung, dass die entscheidenden Dinge leise ausgesprochen und nicht
  herausgebrüllt werden. Wichtige
  Mitteilungen aus dem Universum der Kunst transportieren die Exponate, die in
  der Jubiläumsausstellung der Galerie Skulpturale zu sehen sind: Wolfgang
  Überhorst, der zugleich als Kurator der Schau firmiert,  hat Werke von
  Künstlern ausgewählt, die für Freunde und regelmäßige Besucher der Galerie
  mehrheitlich bereits „Alte Bekannte“ sind. Wir sehen Arbeiten von Norbert
  Pümpel, Sonja Klebe, Lukas Thein und Giso Westing sowie – zum ersten Mal in
  Lindau – von Hans-Werner Berretz.  Das sind sechs
  Künstler und sechs sehr unterschiedliche Positionen bzw. Stimmen: Dominant
  ertönen neben Überhorsts Metallarbeiten bereits qua Format und Anzahl Norbert
  Pümpels düstere Bildwelten, zu denen – als Kontrapunkte und Akzente –
  einzelne Werke der vier anderen treten.
 „Kunst
  ist Geheimnis“ – lautet der Untertitel zu „Flüsterlings Welt“. Kunst ist
  immer mehr, als sich darüber sagen lässt, und Kritiken hören da auf, wo es
  eigentlich erst losgeht. Das war zumindest das Credo der Herren Überhorst und
  Pümpel beim Vorgespräch letzte Woche. Insofern möchte ich auch gar nicht
  mehr, als ein paar Hinweise geben, damit Sie anschließend die Möglichkeit
  haben, dem Flüsterling ganz unvoreingenommen zu lauschen. Der
  Bildhauer Wolfgang Überhorst zeigt Objekte aus Eisen, neben dem „Flüsterling“
  sind das „Pavels Falter“ und der „Friedenssammler“, der als einziger frei im
  Raum steht, um sich dem Betrachter aus wechselnden Perspektiven immer wieder
  neu und anders darzustellen.  Die Objekte sind aus massiven
  Metallplatten ausgeschnitten und so zusammengefügt, dass sie in sich offen
  und beweglich erscheinen: Scharnierverbindungen deuten als potentiell
  flexible Gelenke die Möglichkeit eines Öffnens oder Verschließens,
  Aufklappens oder Zusammenfaltens an. Bewegung drücken auch die hellblauen
  Stangen aus, die sich vor dem „Flüsterling“ in der Mitte eines kreisrunden
  Ausschnitts kreuzen und eine zentrifugale Dynamik suggerieren.
 Trotz
  der Schwere des Materials erscheinen die Arbeiten erstaunlich zerbrechlich,
  leicht und verspielt. In diesem Sinne wirkt auch die Bemalung, die überhaupt
  zum ersten Mal im Schaffen des Künstlers nicht als Patina, sondern als
  farbige „Fassung“ der Skulptur zum Einsatz kommt. Mitunter
  sind es unheilvolle Botschaften, die uns der „Flüsterling“ zu wispert. Sie
  manifestieren sich in den Bildern von Norbert Pümpel, die nicht nur aufgrund
  ihrer Titel – „Winterland“ oder „Unbestimmtes Land“ – eine frostige Kälte
  ausstrahlen und an die Arbeiten des Künstlers zum radioaktiven Fallout denken
  lassen.   Zwar erzeugen die
  tief liegenden Horizontlinien eine vage landschaftliche Raumvorstellung. Trotz
  vordergründiger Bezüge auf die sichtbare Wirklichkeit entziehen sich die
  Darstellungen aber einer exakten begrifflichen Bestimmung. Dass Realität
  entschwindet, sich förmlich aufzulösen scheint, je näher man ihr kommt und je
  genauer man sie untersucht, ist eine – vielleicht mitunter frustrierende –
  Erkenntnis naturwissenschaftlicher Forschung. Pümpel hat selbst Mathematik
  und Physik studiert und reflektiert in seiner Arbeit häufig deren Sicht- und
  Herangehensweisen, die auch seinen Schaffensprozess bestimmen: Vielfach
  entstehen die Bilder in laborartigen Versuchsanordnungen – was etwa für die
  Arbeit aus der Serie der „Kondensate“ gilt: Die Ölfarbe bildet hier durch
  Beimischung von verschiedenen Chemikalien eigenständig Strukturen aus, die
  sich der Kontrolle des Künstlers entziehen.
  Die Sprache des Flüsterlings ist
  zugleich eine zutiefst musikalische. Das kleine Blatt von Hans-Werner Berretz
  trägt den Hinweis auf seine musikalische Inspiration bereits im Titel:
  „Augenballett No. 5. Erblühende Phantasie mit gefundenen Klängen“. Der
  anwesende Michael Denhoff – selbst Musiker und Komponist – hat über Berretz‘
  Arbeiten einmal geschrieben, diese seien „auf sehr sinnliche Art und Weise
  selbst Musik.“
 Tatsächlich
  hat diese künstlerische Setzung eine ausgesprochen sinnliche Qualität: So hat
  der Bildträger eine verführerisch samtige Oberfläche, die förmlich zum
  Betasten einlädt; darüber breitet sich ein Geflecht aus unregelmäßigen
  grafischen Spuren, die stellenweise fast Schriftcharakter annehmen, dabei
  aber unleserlich bleiben. Beim Entziffern dieser – man könnte in Anlehnung an
  die nicht-lineare Orthographie der Aliens in „Arrival“ vielleicht sagen:
  nicht-linearen – Partitur springen die Augen des Betrachters permanent hin
  und her – wir werden in Bewegung versetzt, oder – dem Titel entsprechend: zum
  Tanzen animiert, ein „Augenballett“ eben.   Eng mit Musik verbunden ist auch die Kunst
  von Giso Westing: Musikalisches wird in den formalen Mechanismen und
  Strukturen greifbar, die der Gestaltung zugrunde liegen – Rhythmik, Variation
  und Modulation. Die Arbeit, die der Maler zu „Flüsterlings“ Welt beigesteuert
  hat, wirkt dabei allein aus der Farbe und dem Duktus des Farbauftrags heraus:
  Die Ölfarbe wurde hier direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt, so dass
  sie dem Betrachter in ihrer physischen Materialität reliefartig
  entgegentritt.
 Aus der
  Farbe entwickeln sich auch hier Strukturen, die Lesbarkeit suggerieren –
  mitten im Bild entsteht eine Art Strichgerüst, das uns als Hieroglyphe oder
  irgendein landschaftliches Element entgegen tritt. Wie bei Norbert Pümpel ist
  jede Eindeutigkeit jedoch ganz bewusst vermieden. Die Gestaltung oszilliert
  zwischen Ungegenständlichkeit und Figuration und stammt damit aus demselben
  Grenzbereich wie die „Blumenampel“ von Lukas Thein.   Dabei wird die Ausstellung nirgendwo
  konkreter als in Theins Gemälde, das seinen Platz zwischen dem „Flüsterling“
  und Pümpels „Unbestimmtem Land“ gefunden hat. Da kommt die Blumenampel –klar
  als solche erkennbar – wie ein Raumschiff herabgeschwebt. In der unteren
  Hälfte des Bildes löst sich das Motiv indessen wieder in abstrakte
  Farbstrukturen auf, die der Betrachter nur aufgrund seiner Alltagserfahrung
  im gegebenen Kontext als Hinweis auf botanisches Wachstum liest. Auch diese
  Malerei wirkt ganz aus der subjektiv-emotionalen Farbe heraus, die primär auf
  der Gefühlsebene zum Betrachter spricht.
 Zu guter
  Letzt ist da noch Sonja Klebe mit ihrer zweiteiligen Leinwandarbeit „noema
  rot, noema blau“. Hier sehen wir uns einer gleichfalls unmittelbar auf
  sinnliches Erleben ausgerichteten, gegenstandslosen Kunst gegenüber: Im
  Zentrum steht jeweils ein schwarzes Quadrat eingerahmt von blauen
  Farbstreifen, die die Malerin sukzessive aufträgt bzw. entfernt, so dass der
  rote Hintergrund zusehends verschwindet oder zum Vorschein kommt.  Und auch da steckt noch einmal Musik drin:
  Das altgriechische „noema“ – d.h. „Gedanke“ – bezeichnet u.a. eine
  musikalisch-rhetorische Figur, die einen bestimmten Abschnitt mittels einer
  Abweichung von der umgebenden Kompositionsweise hervorhebt, also eine
  bestimmte Form von Varianz, die auch der Darstellung von Sonja Klebe zugrunde
  liegt.
 Zur
  sinnfälligen Verbindung von bildender Kunst und Musik kommt es auch im Rahmen
  der heutigen Jubiläumsfeier und Vernissage. Zeitgenössische Kunst und Musik
  sind die programmatischen Schwerpunkte der Skulpturale, wie die Galeristin
  auf ihrer Homepage schreibt.  Verbindungen
  zu schaffen, ist ein zentrales Anliegen von Luisa Überhorst – dabei werden
  nicht nur unterschiedliche Disziplinen zusammengebracht, sondern vor allem
  auch Künstler, Sammler und andere Kunstfreunde – und das alles in einer
  schönen Atmosphäre, in der man sich immer wohl und willkommen fühlt. Das
  dürfte zumindest in dieser Form und Qualität in Lindau ziemlich einzigartig
  sein. In diesem Sinne: Schön, dass es die Skulpturale gibt, und viel Erfolg
  für die nächsten fünf Jahre! 
 
 Silvia Salzmann bei
  der Vernissage am 30. 4. 2017, Foto MGD   
 Michael Denhoff &
  Silvia Salzmann bei der Finissage am 7. 10. 2017, Foto MGD ←   |